1 Problemstellung

Unfälle im Längsverkehr zählen zur größten Gruppe der Unfallarten und zur zweitgrößten der Unfälle mit Getöteten und Schwerverletzten. Daher besitzen Systeme zum Schutz gegen diese Unfallart ein sehr hohes Potenzial (s. Kap. 4). Auf welche Weise Gegenmaßnahmen abgeleitet werden, zeigt Abb. 47.1.

Abb. 47.1
figure 1

Ablauf einer kritischen Verkehrssituation zur Ableitung von Assistenzstrategien und Handlungsabläufe bei einer kritischen Fahrsituation (nach [1]), Ziffern: Einsatzbereiche von Fahrerassistenzsystemen (s. Text)

Zunächst besteht zwischen dem Unfallereignis kein unmittelbarer und sofortiger Zusammenhang zu einer aufgetretenen Störung. Ausgehend von einem vorher eingegangenen latenten Gefahrenniveau erhöht die Störung dieses Niveau, wobei aber zunächst noch eine beträchtliche Reserve zum tatsächlichen Unfallgeschehen besteht. Erst mit zunehmender Zeit ohne Reaktion oder mit falscher Reaktion führt diese Störung zum Unfall. Ein rechtzeitiges, richtiges Eingreifen durch den Fahrer kann dagegen diese Situation entschärfen, sodass die kritische Situation nur zu einem Beinaheunfall führt. Aus dieser Strukturierung des Ablaufs lassen sich nun drei Strategien zum Unfallschutz ableiten, die im Folgenden kurz skizziert werden und im Weiteren auf die Umsetzung für den Frontkollisionsschutz ausführlich erläutert werden.

  1. 1.

    Präventive Assistenz: Präventive Unfallvermeidung durch Herabsetzen der latenten Gefahr und damit Reduktion der Wahrscheinlichkeit, in eine kritische Situation zu geraten oder zumindest bei einer Störung einen effektiv größeren Handlungsspielraum zu haben.

  2. 2.

    Reaktionsunterstützung: Unfallvermeidung durch Assistenz in kritischen Situationen, damit der Fahrer rechtzeitig und richtig reagiert. Für die Unfallvermeidung im Längsverkehr kommen praktisch nur zwei Strategien infrage: Verzögern oder Ausweichen. Hier haben die Assistenzsysteme auf der Stabilierungsebene wie ABS und ESP als erste Voraussetzung die „Gutmütigkeit“ des Fahrzeugs auf diese Aktionen geschaffen, weil fahrdynamisch kritische Folgesituationen wie insbesondere das Schleudern schon im Ansatz vermieden werden und die Fahrer von Beginn an die Grenzen der Fahrphysik gehen können. Trotzdem zeigen die Unfallanalysen (s. Kap. 4) [2] und Probandenversuche [3], dass von dieser Möglichkeit nur unzureichend oder gar nicht Gebrauch gemacht wird.

  3. 3.

    Notmanöver: „Harte Eingriffe“ im Bereich der letzten Sekunde vor dem Unfall, die den Unfall per Notmanöver vermeiden, wenn die rechtzeitige, richtige Fahrerreaktion ausgeblieben ist, oder zur Unfallschadensverminderung ( Collision Mitigation) beitragen. Die wegen der vorsichtigen Interpretation der rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere des für Deutschland gültigen Wiener Übereinkommens (s. Kap. 3), herrschte anfänglich noch große, rechtlich begründete Zurückhaltung bei der Markteinführung von unfallvermeidenden Systemen für die letzte Sekunde, wenn sie nicht mehr durch den Fahrer überstimmbar sind. Erfolgt der Einsatz eines aktiven Bremseingriffs erst „zu einer Zeit, zu der ein Ausweichen objektiv unmöglich ist“ (s. [4]), dann werden keine rechtlichen Vorbehalte gesehen. Da mittlerweile die Akzeptanz durch Bremseingriff unfallvermeidend wirkender Systeme gestiegen ist und durch Anforderungen aus Verbrauchertests (vgl. Kap. 11) sogar gefordert werden, wurden Systeme entwickelt, die mit dem harten Bremseingriff nicht mehr warten, bis ein Unfall unvermeidbar ist.

2 Unfallschutz durch präventive Assistenz

Zur Verringerung der latenten Gefahr lassen sich zwei Hauptrichtungen angeben: die Erhöhung des fahrdynamisch nutzbaren Handlungsspielraums sowie die Erhöhung der Fahrerfähigkeit, eine Störungssituation zu bewältigen. Letztere ist im Wesentlichen durch die Fahrerkonstitution und die Fahrfertigkeiten gegeben. Wiederum Letzteres kann mit Fahrerassistenzsystemen kaum verbessert werden, sondern durch Training, z. B. auf dem Verkehrsübungsplatz. Die Konstitution des Fahrers kann hingegen dadurch verbessert werden, dass er von beanspruchenden Fahraufgaben entlastet wird, z. B. durch die Übernahme des Folgefahrens durch ACC. Sowohl über physiologische (weniger Anstrengung für die Augen) als auch psychologische Wirkungszweige (entspanntere Verkehrswahrnehmung) [5] kann zur Verbesserung der Konstitution beigetragen werden.

Natürlich ist ACC auch ein sehr geeignetes Mittel zur Erhöhung des objektiv zur Verfügung stehenden Handlungsspielraums. In den bekannten Untersuchungen (s. Kap. 46) wählen ACC-Nutzer höhere Zeitlücken, als wenn sie selbst den Abstand einregeln. Unklar ist hingegen, ob ein Verlassen auf ACC zu einem späteren Fahrereingriff führt oder aber durch eine schon früh einsetzende Fahrzeugverzögerung die Reaktionszeit verkürzt wird. Waren die ersten ACC-Ausführungen noch wenig geeignet, im Stadtverkehr eingesetzt zu werden, so erlauben die FullSpeedRange-ACC-Systeme auch diesen Einsatz, wobei noch keine Studien zur Nutzung und zum möglichen Sicherheitspotenzial bekannt sind.

Eine ähnlich wie ACC geeignete Lösung zur Abstandshaltung kann mit einem Aktiven Fahrpedal (auch als Force-Feedback-Pedal bezeichnet) dargestellt werden. Hier bleibt der Fahrer in der direkten Regelschleife. Hält er eine weitgehend konstante Pedalkraft aufrecht, verändert sich der Fahrpedalwinkel in der Art, dass die Zeitlücke konstant bleibt und somit eine Abstandshaltung wie mit ACC ermöglicht wird, allerdings ohne aktiven Bremseingriff.

3 Reaktionsunterstützung

Die Reaktionsunterstützung umfasst die Schritte Aufmerksamkeitserregung, Situationsklärung und Eingriffsunterstützung (s. a. Kap. 37). Da einer kritischen Situation im Längsverkehr zumeist eine Unaufmerksamkeit vorausgeht [6], ist die Änderung dieses Zustands notwendige Voraussetzung für eine in der Folge korrekten Aktion. Die Aufmerksamkeitserregung erfolgt üblicherweise explizit durch Warnelemente, kann jedoch auch implizit durch nicht erwartete Regelreaktionen bei ACC erfolgen. Wie bereits in Kap. 37 erläutert, unterscheiden sich die Warnstrategien hinsichtlich ihres Informationsgrades. Eine einfache auditive Warnung erreicht eine hohe Aufmerksamkeit, allerdings ist damit noch kein Hinweis auf die Situation oder die nun notwendige Reaktion verbunden. Dies kann durch eine ergänzende visuelle Information oder ein auditives Icon erreicht werden. Da sich eine ausführliche Beschreibung der Warnmöglichkeiten einschließlich der Bewertung der Verzeihlichkeit bei Fehlwarnung in Kap. 37 findet, wird hier nicht weiter auf die unterschiedlichen Möglichkeiten eingegangen.

Bei einer kritischen Situation im Längsverkehr kommen grundsätzlich zwei Unfallvermeidungsstrategien infrage: dem Hindernis ausweichen oder vor dem Hindernis anhalten. In Abschn. 47.6 werden anhand bestimmter Ausgangsparameter die für eine erfolgreiche Unfallabwendung notwendigen Eingriffszeitpunkte berechnet. In allen praktischen Situationen findet sich eine Geschwindigkeit, oberhalb derer Ausweichen als letztmögliches Manöver berechnet wird, während unterhalb dieser Geschwindigkeit Bremsen nach dem letztmöglichen Ausweichabstand noch erfolgreich den Unfall vermeiden kann. Aber in beiden Fällen wird ein optimales Manöver betrachtet. Während bisher nur in einer Fahrzeugreihe (Lexus LS, seit 2006) eine Ausweichassistenz angeboten wird, ist der Bremsassistent seit 1997 auf dem Markt und in der einfachen, bremspedalgesteuerten Basisvariante in nahezu allen Neuwagen zu finden. Diese Grundfunktion und zusätzliche Funktionserweiterungen werden in Abschn. 47.5 beschrieben. Allen gemeinsam ist, dass der Bremsassistent erst dann Wirkung erzielen kann, wenn auch wirklich das Bremspedal getreten wird. Da aber in etwa einem Drittel der untersuchten Fälle in [2] und [3] und sogar der Hälfte bei [7] keine Bremsaktion unternommen wurde, kann in diesen Fällen der Bremsassistent allein keine Wirkung entfalten. Wie in den Probandenuntersuchungen [3] und [8] belegt wurde, führt ein automatischer Bremseingriff zu einer Bremsreaktion des Fahrers. Somit kann ein automatischer Bremseingriff zur Stimulation der Fahrerentscheidung eingesetzt werden. Dafür kommt ein kurzzeitiger Bremsruck oder eine permanente Teilbremsung infrage. Wenn daraufhin der Fahrer mit einer Bremspedalaktion die Freigabe für den Bremsassistenten gibt, erfolgt eine Bremsung mit maximaler Verzögerung oder als „Zielbremsung“, wenn die Umfeldsensorik eine solche Funktion erlaubt (s. Abschn. 47.5.2).

4 Notmanöver

Sollten alle vorher genannten Warnstufen noch nicht zu Ausweich- oder Bremsaktionen des Fahrers geführt haben, können automatische Notmanöver mit „harten“ Eingriffen in der letzten Sekunde vor einem vorhergesagten Aufprall den Schaden abwenden oder verringern. Automatische Ausweichmanöver sind bei hohen Differenzgeschwindigkeiten als unfallvermeidende Manöver wirksamer als Bremsmanöver (zumindest dann, wenn durch das Ausweichen nicht ein schlimmerer Folgeunfall auftritt). Wie Ausweichmanöver realisiert werden können, wurde im Projekt PRORETA (s. Kap. 57) gezeigt, nämlich mit einem automatischen Lenkimpuls, der zum aktuellen Lenkwinkel addiert wird und so bemessen ist, dass das Hindernis umfahren werden kann. Diese Form des Ausweichmanövers kann nach den in der Studie gewonnenen Erkenntnissen als akzeptabel angesehen werden, allerdings reichen die Fähigkeiten heutiger Umfelderfassungssysteme für die Auslösung eines automatischen Notausweichens bei weitem nicht aus.

Die automatische Notbremsung ist hingegen schon eine im Markt eingeführte Technik. Diese wird aber u. a. wegen der zuvor genannten rechtlichen Randbedingungen erst dann aktiv, wenn ein Ausweichen nicht mehr erwartet werden kann. In allen bekannten Umsetzungen ist die Einleitung der automatischen Notbremsung der letzte Schritt einer Aktionskette und wird erst ausgelöst, wenn die vorherigen Warnstufen ohne Brems- oder Lenkreaktion blieben oder bei der maschinellen Erkennung der Notsituation für Fahreraktionen keine ausreichende Zeitdauer gegeben ist.

Die Wirksamkeit der verschiedenen Auslegungen einer automatischen Notbremsung wird in Abschn. 47.6.3 sowohl theoretisch abgeleitet als auch experimentell belegt.

5 Bremsassistenz

5.1 Basisfunktion

Wie Unfallanalysen [2] und Probandenversuche im Fahrsimulator [9] oder auf dem Testgelände [10] zeigen, sind viele Bremsungen in Notsituationen nicht für einen kurzen Bremsweg optimal. Nach einer steilen Druckanstiegsphase setzt sich der Druckaufbau oft nur zögerlich fort. Daraus leitet sich die Funktion des Bremsassistenten ab: Der Bremsassistent (BAS) soll, sobald die Notbremsabsicht eindeutig erkannt ist, schnellstmöglich die maximale Verzögerung aufbauen und so lange halten, bis eine Rücknahme des Notbremswunsches erkannt wird. Das damit erreichbare Potenzial beziffert Weiße [10] für eine Notbremsung aus 100 km/h mit einer mittleren Bremswegverkürzung von 8 m, also etwa 20 %. Noch höher wird der relative Anteil bei niedrigen Geschwindigkeiten, womit auch verständlich wird, dass der Nutzen besonders ungeschützten Verkehrsteilnehmern zugute kommt [11].

Die anfängliche Bremspedalgeschwindigkeit oder der folglich ausgelöste Anstieg des Bremsdrucks eignen sich als Basiskriterien für das Vorliegen einer Notbremsung. Die Unterscheidung zwischen normaler Bremssituation und einer Notbremsung geschieht auf Basis von empirisch ermittelten Werten. Die Schaltschwellen beziehen sich auf die Pedalgeschwindigkeit und werden direkt über den Membranweg des Bremskraftverstärkers oder indirekt über Drucksensoren am Hauptbremszylinder gemessen. Sie variieren in Abhängigkeit der Fahrgeschwindigkeit und des Hauptzylinderdrucks bzw. des Bremspedalwegs. Obwohl ein Entscheidungsfehler nicht ausgeschlossen werden kann, so ist dieses Kriterium allen anderen Kriterien, die aus der Fußbewegung abgeleitet werden können, weit überlegen [10]. Die im realen Straßenverkehr gemessenen Standardbremsungen reichten nicht an die Pedalgeschwindigkeiten (s. Abb. 47.2) heran, die eine Notbremsung kennzeichnen. Allerdings können etwa gleiche Pedalgeschwindigkeiten bei den von Weiße [10] so genannten Schreckbremsungen erreicht werden, ohne dass für diese Situation eine Vollbremsung notwendig war. Diese „Nebenwirkungen“ können durch das Zurückziehen des Bremspedals ohne größere Probleme und Auswirkungen für den nachfolgenden Verkehr beherrscht werden und ähneln den Reaktionen, die bei Wechsel von einem Fahrzeug mit höherer Bremsbetätigungsenergie auf ein anderes Fahrzeug mit einem „knackigen“ Bremspedal zu beobachten sind.

Abb. 47.2
figure 2

Boxplot-Darstellung der Bremspedalgeschwindigkeiten bei Standard-, Not- und Schreckbremsungen [10]

Die für die Bremsassistenzfunktion notwendigen Stellsysteme sind Teil moderner Bremssysteme und bedienen sich pneumatischer oder elektrischer Hilfsenergie, um die für die maximale Verzögerung notwendige Spannkraft der Bremssättel bereitzustellen. Kapitel 30 und Kap. 31 erläutern die für den Kraftaufbau notwendigen und heute eingesetzten Techniken. Funktional ist es von geringer Bedeutung, auf welche Weise die Zusatzspannkraft erreicht wird. Es verbleiben Unterschiede in der Aufbaudynamik.

Da das Hauptauslösekriterium die Bremspedalgeschwindigkeit ist, lässt sich die Bremsassistent-Basisfunktion auch mit mechanischer Steuerung mithilfe des Bremskraftverstärkers durchführen. Bei schneller Kolbenstangenbewegung wird eine erheblich höhere Bremskraftverstärkung ausgelöst, so dass bei gleicher Pedalstellung gegenüber einer „langsamen“ Bremsbetätigung mehr Bremskraft entwickelt wird. Diese Funktion wird ergänzt durch die Möglichkeiten des Druckaufbaus per Hydraulikpumpe des ESC, vgl. Kap. 40.

5.2 Weiterentwicklungen

In der hier schon häufig zitierten Arbeit von Weiße [10] finden sich auch weitere Ansätze zur Bremsassistenzauslösung, insbesondere um eine frühere Auslösung zu erreichen. Allerdings wurde kein Kriterium gefunden, dass nur annähernd die gleiche Entscheidungsqualität wie die Bremspedalgeschwindigkeit bot. Mit einer Kombination von Kriterien im Sinne einer ODER-Verknüpfung ließe sich das Potenzial von 8 auf 11 m steigern. Das Gleiche ließe sich auch durch eine abgestufte Funktion, die mit drei Stufen – der Vorkonditionierung, der Vorbremsung (mit 3 m/s2) und der Vollbremsung – arbeitet, erreichen. Allerdings muss für die Vorbremsung die Fußbewegung in Fahrzeuglängsrichtung gemessen werden, was nicht leicht zu realisieren ist. Allein die Abstufung von Vorkonditionierung bei Überschreitung einer Fahrpedalgeschwindigkeitsschwelle und von Bremspedalgeschwindigkeit getriggerter Vollbremsung bringt den vergleichsweise geringen Gewinn von 0,6 m auf insgesamt 8,6 m.

Für eine weitere Verbesserung der Bremsassistenzfunktion ist eine zeitliche Vorverlagerung des Bremsbeginns erforderlich. Dafür bieten sich zwei Strategien an:

  • Verkürzung der Umsetzzeit von Fahrpedal auf Bremspedal. In vielen Untersuchungen [12, 10, 2, 13] hat sich gleichlautend eine Umsetzzeit von ca. 0,2 s ergeben. Diese Umsetzzeit ließ sich nur durch ein alternatives Betätigungskonzept erheblich verkürzen, was im Falle eines in Längsrichtung isometrischen Sidesticks von [14] auch nachgewiesen wurde.

  • Absenkung der Schwellen bei Erkennung einer Notbremssituation auf Basis umfelderfassender Sensorik.

Liegt aber eine Situationserkennung schon vor, dann ist es auch nahe liegend, den Unterstützungsgrad abhängig von dem noch zur Verfügung stehenden Abstand auszulegen, also nur so viel zusätzliche Verzögerung zu erzeugen, wie zum rechtzeitigen Geschwindigkeitsabbau benötigt wird. Die benötigte Verzögerung \(\begin{aligned} D _{{\rm req}}= v _{{\rm diff}}^{2 }/ 2 d \end{aligned}\) in Abhängigkeit der Time-to-Collision t tc = d/v diff, die wiederum aus dem Abstand d und der Differenzgeschwindigkeit v diff zwischen Egofahrzeug und Hindernis gebildet wird, ist in Abb. 47.3 für verschiedene Ausgangsdifferenzgeschwindigkeiten dargestellt. Natürlich führt die Absenkung der Verzögerung nicht zur Verkürzung des Bremswegs, allerdings kann diese Unterstützung im Vorfeld einer kritischen Situation nützlich werden, wenn der Fahrer die Situation unkritischer einschätzt, als sie tatsächlich ist, sowie unangemessen gering bremst und somit wiederum die Reserve für den rechtzeitigen Geschwindigkeitsabbau verkleinert. So wird in dem in Abb. 47.3 dargestellten Beispiel angenommen, dass bei einer Ausgangsdifferenzgeschwindigkeit von 70 km/h und einer t tc von knapp 2 s vom Fahrer nur eine Verzögerung von 3 m/s2 eingeleitet wurde. Die Verzögerung wird durch den adaptiven Bremsassistenten nun auf mindestens 5 m/s2 erhöht, damit bei dieser Verzögerung der noch verfügbare Abstand für eine gleichmäßige Verzögerung genutzt werden kann.

Abb. 47.3
figure 3

Benötigte mittlere Verzögerung in Abhängigkeit von der Time-to-Collision für verschiedene Ausgangsdifferenzgeschwindigkeiten

6 Warn- und Eingriffszeitpunkte

In den folgenden Unterabschnitten werden fahrdynamisch und fahrerverhaltensbasierte Warn- und Eingriffszeitpunkte abgeleitet, die für unterschiedliche Frontkollisionsgegenmaßnahmen geeignet sind. Grundsätzlich sind für die Auslösung einer Gegenmaßnahme zwei Betrachtungsweisen möglich:

  • Zeitkriterien (Time-to-Collision, Time-Threshold-Evasion, Time-to-Stop, Time-Threshold-Brake; für Kollisionsvermeidung benötigte zeitliche Reserve)

  • Beschleunigungskriterien (für Kollisionsvermeidung benötigte Längsverzögerung bzw. Querbeschleunigung)

Für die Zeitkriterien werden aktuelle Abstands-, Geschwindigkeits- und Beschleunigungswerte herangezogen und dann mit Zeitschwellwerten verglichen, die sich aus Annahmen über die maximal möglichen Verzögerungen und Querbeschleunigungen ableiten und sich bei Warnungen additiv um die angenommene Reaktionszeit vergrößern. Die Beschleunigungskriterien sind bezüglich der fahrdynamischen Betrachtungen recht einfach, da es ausreicht, diese mit den angenommenen Maximalwerten für die Beschleunigung zu vergleichen. Der Vorteil verschwindet, wenn eine Reaktionszeit, wie bei Warnstrategien benötigt, oder eine Systemtotzeit mit in die Berechnung eingeht. Da beide „Kriterienwelten“ Vor- und Nachteile in der Darstellung haben, werden die relevanten Gleichungen und Schwellwerte im Folgenden für beide Betrachtungen vorgestellt, auch wenn letztlich beide Betrachtungen ineinander überführt werden können. Bei Berechnungen zum Ausweichen führt die Zeitbetrachtung zu einfacheren Termen, zum Bremsen sind die Beschleunigungskriterien einfacher darzustellen. Am Ende dieses Abschnitts werden die Ergebnisse zu den einzelnen Kriterien in einer gemeinsamen Übersicht referenziert.

6.1 Fahrdynamische Betrachtungen

Bei den fahrdynamischen Betrachtungen werden drei Fälle unterschieden. Der einfachste geht von einem mit konstanter Geschwindigkeit bewegten, unbeschleunigten Hindernis (inkl. Spezialfall des stehenden Hindernisses) aus. Danach erfolgt die Herleitung der Kriterien für ein Fahrzeug, das sich mit konstanter Relativbeschleunigung zum Egofahrzeug bewegt. Im dritten Spezialfall führt die Verzögerung des Hindernisfahrzeugs zum Stillstand, noch bevor das Egofahrzeug das Hindernis erreicht. In einer weiteren Betrachtung wird die Ausweichmöglichkeit bei gemischt längs- und querbeschleunigter Bewegung des Egofahrzeugs betrachtet.

6.1.1 Berechnungen für ein unbeschleunigtes Hindernis

6.1.1.1 Verzögerungsmanöver

Wenn sich das Hindernis mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, so lassen sich trotzdem alle Berechnungen auf ein Relativsystem zu diesem Objekt beziehen. Somit entsprechen alle Ergebnisse dem Fall eines ruhenden Hindernisses, wobei die negative Relativgeschwindigkeit –v rel als Differenzgeschwindigkeit v diff die Absolutgeschwindigkeit v x,v ersetzt und der Abstand d den Absolutweg s. So lässt sich aus dem Bremsweg in den Stand s B(v xv,0) aus der Ausgangsgeschwindigkeit v xv,0 mit dem Bremsabstand d B(v diff) gleichsetzen, der für einen Ausgleich der gleich großen Differenzgeschwindigkeit v diff benötigt wird. Die später eingeführte Time-to-Stop bezieht sich entsprechend auf die Zeit, die zum Geschwindigkeitsausgleich benötigt wird.

Der Bremsabstand berechnet sich in für heutige Bremsanlagen guter Näherung zu

$$\begin{aligned} d _{{\rm B}}( v _{{\rm diff}}) = v _{{\rm diff}}\cdot \tau _{{\rm B}}+ \frac{v _{{\rm diff}}^{2 }}{{\rm 2}D _{{\rm \text{max}}}}{\rm }. \end{aligned} $$
(47.1)

Die Bremsenverlustzeit τ B berücksichtigt den effektiven Zeitverlust beim Verzögerungsaufbau. Bei angenommenem linearem Anstieg der Verzögerung innerhalb einer Schwellzeit τ s bis zur mittleren Vollverzögerung D max kann die Verlustzeit durch die Hälfte der Schwellzeit (also τ s/2) angenähert werden, ohne dass der Fehler bei der Bremswegberechnung über einstellige Zentimeterwerte hinausgeht. Die im Bereich von 50 ms liegende Bremsenansprechzeit wird der deutlich höher liegenden Fahrerreaktionszeit τ R zugeschlagen, die ihrerseits aus Blickzuwendungszeit, Reaktionsgrundzeit und Umsetzzeit besteht und zwischen 0,5 und 1,5 s anzusetzen ist. Für die Berechnungsbeispiele wird dieser Wert auf τ R = 1 s gesetzt, wobei dies in für den Fahrer klaren Situationen ein deutlich zu hoher Wert ist, vgl. [2] und [13].

Der Warnabstand d warn für eine rechtzeitige Notbremsung fügt zur Bremsverlustzeit in Gl. (47.1) additiv die Reaktionszeit des Fahrers τ R hinzu,

$$\begin{aligned} d _{{\rm warn}}( v _{{\rm diff}}) = v _{{\rm diff}}\cdot ( \tau _{{\rm B}}+ \tau _{{\rm R}}) + \frac{v _{{\rm diff}}^{2 }}{{\rm 2}D _{{\rm \text{max}}}}{\rm }. \end{aligned}$$
(47.2)

Bezieht man die aktuellen Abstände d auf die Differenzgeschwindigkeit v diff, so erhält man die Größe Time-to-Collision (TTC)

$$\begin{aligned} t _{{\rm tc}}= \frac{d }{v _{{\rm diff}}}{\rm }; {\rm }{\rm }d , {\rm }v _{{\rm diff}}> 0 {\rm }, \end{aligned}$$
(47.3)

und die Gleichungen (47.1) und (47.2) vereinfachen sich zu

$$\begin{aligned} t _{{\rm tB}}( v _{{\rm diff}}) = \tau _{{\rm B}}+ \frac{t _{{\rm ts}}( v _{{\rm diff}}, {\rm }D _{\text{max} }) }{2 }{\rm }, \end{aligned} $$
(47.4)

mit der Time-Threshold-Brake t tB sowie der Time-To-Stop

$$ \begin{aligned} t _{{\rm ts}}( v_{\rm diff} , {\rm }D _{\text{max} }) = \frac{v _{{\rm diff}}}{D _{\text{max} }}{\rm }, \end{aligned} $$
(47.5)

und entsprechend

$$ \begin{aligned} t _{{\rm warn}}( v _{{\rm diff}}) = \tau _{{\rm R}}+ t _{{\rm tB}}( v _{{\rm diff}}) {\rm }. \end{aligned} $$
(47.6)

Die Zeitdauer für den Vollbremsvorgang t ts ist doppelt so groß wie die TTC bei Beginn des Bremsens. Dieser Grundsatz gilt auch für die nachfolgenden Betrachtungen, solange eine konstante und positive Relativverzögerung vorausgesetzt werden kann.

Neben der Betrachtung von Zeit- und Ortsabständen kann auch die aktuell notwendige Verzögerung D req bestimmt und als Schwelle herangezogen werden. Für den einfachen Fall des mit konstanter Geschwindigkeit bewegten Hindernisses ermittelt diese sich wie folgt:

$$\begin{aligned} D _{{\rm req}{\rm ,v}}= \frac{v _{{\rm diff}}^{2 }}{2 d } \end{aligned}$$
(47.7)
6.1.1.2 Ausweichmanöver

Der Ausweichabstand d eva berechnet sich aus dem Produkt der Differenzgeschwindigkeit und der für das Ausweichen benötigten Zeitdauer t eva, die ihrerseits in guter Näherung aus dem für das Ausweichen notwendigen Versatz y eva, der mittleren maximalen Querbeschleunigung a y,max und der Lenkverlustzeit τ S, die wie die Bremsenverlustzeit in der Größenordnung von 0,1 s liegt, angegeben werden kann.

$$\begin{aligned} t _{{\rm eva}}= \sqrt{\frac{2 y _{{\rm eva}}}{a _{{\rm y}, \text{max} }}}+ \tau _{{\rm S}} \end{aligned}$$
(47.8)
$$\begin{aligned} d _{{\rm eva}}= v _{{\rm diff}}\cdot t _{{\rm eva}} \end{aligned}$$
(47.9)

Die maximale Querbeschleunigung a y,max beträgt je nach Reifentyp zwischen 80 und 100 % der maximalen Verzögerung D max, die ihrerseits bei trockenen Fahrbahnen etwa 10 m/s2 beträgt (im Weiteren wird ein Verhältnis von a y,max/D max = 90 % angenommen). Für den Ausweichversatz kann man bei schmalen Hindernissen 1 m annehmen, bei größeren wie Lkw 1,8 m. Damit erhält man Werte von 0,55 bis 0,7 s für t eva. Im Folgenden wird ein die Fahrdynamiküberlegungen repräsentierender Wert t eva,phys = 0,6 s angenommen. Dieser ist natürlich zu hoch, wenn ein deutlich verringerter Ausweichversatz benötigt wird, z. B. weil das Hindernis seitlich zur Fahrtrichtung versetzt ist.

In Analogie zur benötigten Verzögerung lässt sich eine benötigte Querbeschleunigung a y,req berechnen, wobei nun neben Abstand und Differenzgeschwindigkeit der Ausweichversatz dieses Kriterium mitbestimmt:

$$\begin{aligned} a _{{\rm y}{\rm ,req}}= 2 y _{{\rm eva}}{\rm }t _{{\rm tc}}^{- 2 }= \frac{2 y _{{\rm eva}}v _{{\rm diff}}^{2 }}{d ^{2 }} \end{aligned}$$
(47.10)

6.1.2 Berechnungen für ein konstant verzögerndes Hindernis

6.1.2.1 Verzögerungsmanöver

Für ein Hindernis, das sich mit einer konstanten Verzögerung D obs bewegt, ist die TTC abhängig von der Relativverzögerung D rel = D obs – D sub zum nachfahrenden Fahrzeug.

$$\begin{aligned} t _{{\rm tc}}( D _{{\rm rel}}) & =\frac{\sqrt{v _{{\rm diff}}^{2 }+ 2 D _{{\rm rel}}{\rm }d }- v _{{\rm diff}}}{D _{{\rm rel}}}{\rm }; \\ &v _{{\rm diff}}^{2 }> 2 D _{{\rm rel}}{\rm }d \end{aligned}$$
(47.11)

t tc(D rel) wird auch als Enhanced Time-to-Collision (ETTC) bezeichnet. Bei verschwindender Relativverzögerung geht Gl. (47.11) in einer Grenzwertbetrachtung in Gl. (47.3) über.

Die für das rechtzeitige Bremsen hinter einem ebenfalls verzögernden Hindernis (D obs > 0) notwendige ETTC errechnet sich aus der maximalen Relativverzögerung

$$\begin{aligned} D _{\text{max} , {\rm rel}}= D _{\text{max} }- D _{{\rm obs}} \end{aligned}$$
(47.12)
$$\begin{aligned} t _{{\rm tB}}( v _{{\rm diff}}, D _{{\rm rel}}) = \tau _{{\rm B}}+ \frac{t _{{\rm ts}}( v _{{\rm diff}}+ D _{{\rm rel}}\cdot \tau _{{\rm B}}, D _{{\rm \text{max}}{\rm ,rel}}) }{2 } \end{aligned}$$
(47.13)
$$\begin{aligned} t _{{\rm warn}}( v _{{\rm diff}}, D _{{\rm rel}}) = \tau _{{\rm R}}+ t _{{\rm tB}}( v _{{\rm diff}}, D _{{\rm rel}}) \end{aligned}$$
(47.14)
$$\begin{aligned} d _{{\rm B}}( v _{{\rm diff}}, a _{{\rm rel}}) & =\left( v _{{\rm diff}}+ D _{{\rm rel}}\frac{\tau _{{\rm B}}}{{\rm 2}}\right) \cdot \tau _{{\rm B}}+ \\ &\frac{( v _{{\rm diff}}+ D _{{\rm rel}}\cdot \tau _{{\rm B}}) ^{2 }}{2 D _{\text{max} {\rm ,rel}}} \end{aligned}$$
(47.15)
$$\begin{aligned} d _{{\rm warn}}( v _{{\rm diff}}, a _{{\rm rel}}) & =\left( v _{{\rm diff}}+ D _{{\rm rel}}\frac{\tau _{{\rm B}}+ \tau _{{\rm R}}}{{\rm 2}}\right) \cdot ( \tau _{{\rm B}}+ \tau _{{\rm R}}) + \\ &\frac{( v _{{\rm diff}}+ D _{{\rm rel}}\cdot ( \tau _{{\rm B}}+ \tau _{{\rm R}}) ) ^{2 }}{2 D _{\text{max} {\rm ,rel}}} \end{aligned}$$
(47.16)

Die Verzögerung des Hindernisses wirkt sich für den Bremsweg praktisch als Reduktion der maximalen Verzögerung des Egofahrzeugs aus. Für die Warnschwelle kann sich die Relativgeschwindigkeit innerhalb der Reaktionszeit noch um D rel  · τ R deutlich erhöhen.

In das Kriterium der benötigten Verzögerung geht nicht die Relativverzögerung ein, sondern zusätzlich zu Gl. (47.7) nur die absolute Hindernisverzögerung D obs:

$$\begin{aligned} D _{{\rm req}{\rm ,D}}= D _{{\rm obs}}+ \frac{v _{{\rm diff}}^{2 }}{2 d } \end{aligned}$$
(47.17)

Im Vergleich zu dem vorherigen einfachen Fall mit v obs = const. muss der Bremseingriff früher, d. h. bei größeren Abständen erfolgen, wenn das Hindernisfahrzeug verzögert, da um diese Verzögerung die Relativverzögerungsfähigkeit reduziert wird, vgl. Gl. (47.12).

6.1.2.2 Ausweichmanöver

Die für das Ausweichen notwendige Zeit t eva ändert sich auch bei einer Relativbeschleunigung nicht, wohl aber der notwendige Abstand, der bei einem stärker als das Egofahrzeug verzögernden Hindernisobjekt nun um \(\begin{aligned} ( D _{{\rm rel}}\cdot t _{{\rm eva}}^{2 }/ 2 ) \end{aligned}\) größer ausfallen muss.

$$ \begin{aligned} d _{{\rm eva}}( v _{{\rm diff}}, D _{{\rm rel}}) = v _{{\rm diff}}\cdot t _{{\rm eva}}+ D _{{\rm rel}}\frac{t _{{\rm eva}}^{2 }}{2 } \end{aligned} $$
(47.18)

Ebenso erhöht sich die benötigte Querbeschleunigung gegenüber dem nicht beschleunigten Fall. Allerdings ist zur Berechnung der benötigten Querbeschleunigung der Umweg über die Variable t tc(D rel) nötig, die die für eine Querbewegung verfügbare Zeitdauer beschreibt.

$$\begin{aligned} a _{{\rm y}{\rm ,req}{\rm ,D}}= 2 y _{{\rm eva}}t _{{\rm tc}}^{- 2 }( D _{{\rm rel}}) = \frac{2 y _{{\rm eva}}D _{{\rm rel}}^{2 }}{\left( \sqrt{v _{{\rm diff}}^{2 }+ 2 D _{{\rm rel}}{\rm }d }- v _{{\rm diff}}\right) ^{2 }} \end{aligned}$$
(47.19)

6.1.3 Berechnungen für ein in den Stand bremsendes Hindernis

Der hier betrachtete Fall liegt zwischen den beiden vorherigen Szenarien. Entsprechend liegen die Resultate auch zwischen deren Ergebnissen.

6.1.3.1 Verzögerungsmanöver

Kommt das Hindernisobjekt (Geschwindigkeit v obs) vor dem Erreichen (also bei ETTC) zum Stillstand, wenn also (v obs / D obs) < t tc(D rel) ist, so erhöht sich die TTC, und die für das Anhalten und Ausweichen notwendigen Abstände verkleinern sich gegenüber den Gl. (47.11) bis (47.18):

$$\begin{aligned} t _{{\rm tc}{\rm ,stop}}= \frac{v _{{\rm sub}}- \sqrt{v _{{\rm sub}}^{{\rm 2}}- 2 D _{{\rm sub}}\cdot d - v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}\frac{D _{{\rm sub}}}{D _{{\rm obs}}}}}{D _{{\rm sub}}} \end{aligned}$$
$$\begin{aligned} \left( v _{{\rm sub}}^{{\rm 2}}- 2 D _{{\rm sub}}\cdot d - v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}\frac{D _{{\rm sub}}}{D _{{\rm obs}}}\right) > 0 \end{aligned}$$
(47.20)

Somit ist ein Bremsabstand notwendig, der sich aus der Differenz der Bremswege des Egofahrzeugs und des Hindernisfahrzeugs zuzüglich des durch die Bremsverlustzeit bedingten Wegs ergibt:

$$\begin{aligned} d _{{\rm B}{\rm ,stop}}= \frac{v _{{\rm sub}}^{{\rm 2}}}{2 D _{{\rm \text{max}}}}- \frac{v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}}{2 D _{{\rm obs}}}+ v _{{\rm sub}}\cdot \tau _{{\rm B}} \end{aligned}$$
(47.21)

Ein Zeitkriterium t tB für diesen Fall vereinfacht die Darstellung von Gl. (47.21) nicht, wie auch schon an Gl. (47.20) zu sehen ist. Für den Warnabstand ist Gl. (47.21) um die Reaktionszeit multipliziert mit der mittleren Differenzgeschwindigkeit während des Reaktionsintervalls zu erweitern:

$$\begin{aligned} d _{{\rm warn}{\rm ,stop}}& =\frac{v _{{\rm sub}}^{{\rm 2}}}{2 D _{{\rm \text{max}}}}- \frac{v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}}{2 D _{{\rm obs}}}+ v _{{\rm sub}}\cdot \tau _{{\rm B}}\\ &+ \left( v _{{\rm diff}}+ D _{{\rm rel}}\cdot \frac{\tau _{{\rm R}}}{2 }\right) \cdot \tau _{{\rm R}} \end{aligned}$$
(47.22)

Die benötigte Verzögerung D req,stop errechnet sich aus der Summe des aktuellen Abstands d und des Bremswegs \(\begin{aligned} v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}/ 2 D _{{\rm obs}} \end{aligned}\) des vorausfahrenden Fahrzeugs

$$\begin{aligned} D _{{\rm req}{\rm ,stop}}= \frac{v _{{\rm sub}}^{{\rm 2}}}{2 \left( d + \frac{v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}}{2 D _{{\rm obs}}}\right) }{\rm }. \end{aligned}$$
(47.23)

Das Ergebnis liegt immer zwischen den Werten für konstante Geschwindigkeit und für konstante Verzögerung

$$\begin{aligned} D _{{\rm req}{\rm ,v}}\leq D _{{\rm req}{\rm ,stop}}\leq D _{{\rm req}{\rm ,D}} \end{aligned}$$
(47.24)

D req,stop liegt nahe an dem Wert D req,v für ein unbeschleunigtes Hindernis (Gl. (47.7)), wenn v obs/D obs klein ist, und nahe an einem dauerhaft verzögernden Hindernis (Gl. (47.17)), wenn v obs/D obs groß ist.

6.1.3.2 Ausweichmanöver

Auch für diesen Fall des in den Stand bremsenden Hindernisses bleibt die benötigte Ausweichzeit unverändert gemäß Gl. (47.8), allerdings ist für die Berechnung des benötigten Ausweichwegs diese Zeit mit der mittleren Egogeschwindigkeit (v diff D sub· t eva/2) zu multiplizieren. Zur Verfügung steht der aktuelle Abstand d und der Verzögerungsweg \(\begin{aligned} v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}/ 2 D _{{\rm obs}} \end{aligned}\) des Hindernisobjekts.

$$\begin{aligned} d _{{\rm eva}}( v _{{\rm obs}}, D _{{\rm obs}}) & =\left( v _{{\rm diff}}- D _{{\rm sub}}\cdot \frac{\tau _{{\rm eva}}}{2 }\right) \cdot \tau _{{\rm eva}}\\ &- \frac{v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}}{2 D _{{\rm obs}}} \end{aligned}$$
(47.25)

Die benötigte Querbeschleunigung

$$\begin{aligned} a _{{\rm y}{\rm ,req}}& =2 y _{{\rm eva}}{\rm }t _{{\rm tc}}^{- 2 }( v _{{\rm obs}}, D _{{\rm obs}}) = \\ &\frac{2 y _{{\rm eva}}D _{{\rm sub}}^{{\rm 2}}}{( v _{{\rm sub}}- \sqrt{v _{{\rm sub}}^{{\rm 2}}- 2 D _{{\rm sub}}\cdot d - v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}\cdot \frac{D _{{\rm sub}}}{D _{{\rm obs}}}}) ^{2 }} \end{aligned}$$
(47.26)

liegt wie die benötigte Verzögerung zwischen den Werten für ein unbeschleunigtes Hindernis (Gl. (47.10)) und denen für ein konstant verzögerndes (Gl. (47.19)). Die Wurzel bleibt nur dann real, wenn auch wirklich die Kollision bei Fortsetzung der Bewegung stattfinden würde. Ansonsten bleibt das Egofahrzeug noch mit endlichem Abstand vor dem Hindernis stehen und bricht auf diese Weise den Ausweichvorgang ab, sodass keine sinnvolle Lösung zur benötigten Querbeschleunigung errechnet werden kann.

Mit Hilfe der Tab. 47.1 können für alle genannten Kriterien und für die drei hier unterschiedenen Fälle die zu einander korrespondierenden Ergebnisse gefunden werden.

Tab. 47.1 Auslöseschwellen mit Verweisen auf die Berechnungen des Abschnitts 47.6
6.1.3.3 Berechnungen für gleichzeitiges Bremsen und Lenken

Wenn der Reifen mit Längskräften beansprucht wird, so kann er nicht mehr die maximalen Querkräfte bereitstellen. Diese Abhängigkeit beschreibt – vereinfachend – der Kammsche Kreis, s. Abb. 47.4, der gemäß der Gleichung

Abb. 47.4
figure 4

Aufteilung der Längs- und Querkräfte beim Reifen ( Kammscher Kreis)

$$\begin{aligned} a _{{\rm y}{\rm ,max}}(D) = a _{{\rm y}{\rm ,max}}\sqrt{1 - \frac{D ^{2 }}{D _{{\rm \text{max}}}^{{\rm 2}}}}{\rm }; {\rm }{\rm }0 \leq D \leq D _{\text{max} } \end{aligned}$$
(47.27)

auch für eine Ellipse mit unterschiedlichen Maximalreibwerten für Längs- und Querrichtung angesetzt werden kann. Bei einem kombinierten Brems- und Lenkmanöver wird die Ausweichzeit t eva verlängert, da nun in Gl. (47.8) die reduzierte maximale Querbeschleunigung a y,max(D) einzusetzen ist.

Anderseits verlängert sich die Zeitdauer bis zum Erreichen des Hindernisses durch die mit dem Bremsen erreichte positive Relativbeschleunigung gemäß Gl. (47.11).

Dieser Effekt dominiert bei kleinen Verhältnissen von D/D max. In einer [15] nachempfundenen Darstellung lässt sich die Wirkung der kombinierten Brems- und Lenkeingriffe über die Bewegung einer mit der Zeit größer werdenden Ellipse verdeutlichen, deren Mittelpunkt sich mit der Ausgangsgeschwindigkeit bewegt (s. Abb. 47.5).

Abb. 47.5
figure 5

Mögliche Aufenthaltsbereiche bei kombinierter Längs- und Querbeschleunigung. Die Ellipsen bewegen sich mit der Ausgangsgeschwindigkeit v 0 und werden mit dem Quadrat der Zeit größer. Die durchgezogene Linie entspricht dem jeweils optimalen Seitenabstand, die gestrichelte der Trajektorie bei ausschließlicher Querbeschleunigung. Darstellung nach [15]

Diese Darstellung zeigt, dass Bremsen bis zu einem von der Ausgangsbedingung abhängigen Maß eine größere ortsbezogene Ausweichfähigkeit nach sich zieht. Auf den Abstandspunkt des Ausweichbeginns bezogen beträgt der Gewinn durch ein optimales Brems-/Lenkmanöver gegenüber dem reinen Lenkmanöver zumeist nur wenige Zentimeter [15] und liegt somit im Bereich der sonstigen Ungenauigkeiten. Damit können die Gleichungen hinsichtlich der Ausweichkriterien, insbesondere die Basisgleichung für das Zeitkriterium, Gl. (47.8), weiter verwendet werden. Allerdings ist bei einem verzögernden Hindernisobjekt (D obs > 0) noch der Abstand \(\begin{aligned} \Delta d = D _{{\rm obs}}{\rm }t _{{\rm eva}}^{{\rm 2}}/ 2 \end{aligned}\), bei in den Stand bremsendem Hindernisobjekt der Abstand \(\begin{aligned} \Delta d = v _{{\rm obs}}^{{\rm 2}}/ 2 D _{{\rm obs}} \end{aligned}\) hinzuzuaddieren. Bezogen auf die TTC bei unbeschleunigten Ausgangsbedingungen erhöht sich somit der Zeitbedarf um Δd / vsub, wobei der kleinere der oben genannten Δd-Werte einzusetzen ist. Mit dem zuvor angegebenen repräsentativen Wert t eva,phys = 0,6 s für Hochreibwert und mittleren Ausweichversatz ist ein zusätzlicher Abstand von 1,8 m zu berücksichtigen, was in Folge zu einer Anhebung der Zeitgrenze um maximal 0,3 s, typisch eher um 0,15 s führt.

Auch wenn die Darstellung des Aufenthaltsraums gemäß Abb. 47.5 sehr leicht zu konstruieren ist, so ist Vorsicht geboten, wenn neben der räumlichen Betrachtung auch die zeitliche erforderlich ist, vgl. Kap. 49. Für den Fall einer reinen Querbeschleunigung verläuft die Trajektorie nicht auf der in Abb. 47.5 zu sehenden Parabel, sondern, wie allgemein bekannt, auf einem Kreis. Die Hauptabweichung zwischen diesen beiden Verläufen betrifft zunächst nicht die Querrichtung, sondern die Längsrichtung, wie folgende Rechnung zeigen wird.

Die Projektion der Kreisbewegung mit konstanter Kreisgeschwindigkeit auf die ursprüngliche Längsachse weist gegenüber dem Verlauf nach Abb. 47.5 eine Abweichung von

x = R (ϑ – sin ϑ); ϑ = v 0 t / R; R = v 0 2 / a y

auf, wobei in Querrichtung die Strecke

y = R (1 – cos ϑ); ϑ = arccos (1 – y / R)

zurückgelegt wird. Somit lässt sich der Winkel ϑ durch einen von y und R abhängigen Term ersetzen:

x / R = (arccos (1 – y / R) – sin [arccos (1 – y / R)]) ≈ (2y / a y )3 / 2 / 6

Die Näherung ergibt sich durch die Reihenentwicklung der trigonometrischen Funktionen, abgeschnitten nach dem kubischen Glied. Je kleiner der Radius ist (implizit bei kleinerer Geschwindigkeit) und je größer die Ausweichbreite ist, umso stärker fällt diese Differenz ins Gewicht. Der zeitliche Unterschied hängt zum einen vom Quadrat des Verhältnisses ay / v0und zum anderen von der dritten Potenz von (2y / a y) ab, der Zeit zum Querversatz y (vgl. Gl. (47.8), erster Term):

x ⁄ v 0 ≈ (a y / v 0) (2y / a y)3 / 2 / 6.

Dieser Unterschied ist erst relevant, wenn v0 klein ist und y in der Größenordnung einer Fahrstreifenbreite liegt (Beispiel: \(\Updelta x / v_{0} \approx 100\, \text{ms bei }v_{0}=10\frac{\text{m}}{\text{s}}, \) \(a_{y }=10\frac{\text{m}}{\text{s}^{2}}=3{,}5\,\text{m}\)).

6.1.4 Ausweichverhalten von Fahrern

Im vorherigen Abschnitt sind allein fahrphysikalische Betrachtungen ausgeführt worden. Allerdings werden nur besonders geübte Fahrer bis an die Fahrphysikgrenzen herangehen. In einer Untersuchung von Honda [16] (Abb. 47.6) wurden Ausweichmanöver in drei Gefährlichkeitsstufen bewertet. Die untere Grenze der mittleren Bewertung („feel somewhat dangerous“) lässt sich sehr gut im Bereich von TTC > 1,6 s identifizieren. Die untere Grenze der als ungefährlich eingestuften Ausweichmanöver kann mit einer TTC von 2,5 s angegeben werden. Aus diesen beiden Werten kann geschlossen werden, dass ein Ausweichmanöver innerhalb von einer Sekunde TTC zwar fahrphysikalisch möglich ist, aber wegen der Einstufung selbst unter großer Risikobereitschaft nicht beabsichtigt durchgeführt wird. Diese Schwelle wird im Folgenden Driver’s Limit genannt. Aber bereits früher, bei einer TTC von etwa 1,6 s, wird der Ungefährlichkeitsbereich verlassen, sodass auch hier nicht mehr von einer normalen Ausweichsituation ausgegangen werden kann und eine Frontkollisionsgegenmaßnahme berechtigt erscheint. Dieser Schwellwert wird im Folgenden Comfort Limit genannt.

Abb. 47.6
figure 6

Subjektive Bewertung von Ausweichmanövern [Quelle: Honda [16]]

Zusammen mit der fahrphysikalischen Grenze ergeben sich nun drei repräsentative Schwellwerte für Frontkollisionsgegenmaßnahmen:

  • Bei t eva (ca. 0,6 s) ist ein Ausweichen physikalisch nicht mehr möglich.

  • Bei t driver (ca. 1 s) wird ein Ausweichen vom Fahrer praktisch nicht mehr geleistet.

  • Bei t comfort (ca. 1,6 s) wird ein Ausweichen als gefährlich angesehen.

Allerdings kommen selbst bei der früheren Schwelle t comfort Warnungen mit der Aufforderung zum Bremsen nicht mehr rechtzeitig. Wenn von einer Reaktionszeit von 1 s (zzgl. Verlustzeit der Bremse von 0,1 s) ausgegangen wird, so lässt sich eine Differenzgeschwindigkeit von nur 2D max · 0,6 s ≈ 12 m/s ausgleichen. Eine besonders wirksame Warnung mit einer Reaktionszeit von 0,5 s käme immerhin schon auf Werte von 22 m/s. In diesen Beispielen wird allerdings eine Vollbremsung unter guten Fahrbahnzustandsbedingungen angenommen. Eine Warnung, die etwa eine Sekunde früher erfolgt, lässt dem Fahrer den Spielraum für eine moderatere Reaktion und kann bei Einsatz einer Vollbremsung sogar Differenzgeschwindigkeiten von 30 bis 40 m/s ausgleichen, womit die weitaus meisten Einsatzfälle abgedeckt sind. Gemäß diesen Überlegungen wird eine weitere Schwelle,

  • die Warnschwelle t warn mit Werten zwischen 2,5 und 3 s,

eingeführt.

Für diese den normalen Fahreinsatz beschreibenden Einsatzschwellen können noch weitere Kriterien zu einer Veränderung der Werte führen. Eine Strategie ist die Beobachtung des Fahrers hinsichtlich der Aufmerksamkeit. In einem im Markt eingeführten Beispiel (Lexus LS, APCS-Paket) bestimmt ein auf der Lenkkonsole montierter Driver Monitor, ob der Fahrer zur Seite schaut. Wird eine längere Blickabwendungszeit ermittelt, erfolgen eine frühere Warnung und ein früherer Eingriff. Weitere Kriterien für die Änderung der Schwellwerte können der Reibwert µ und die Sichtweite sein. Ein verminderter Reibwert erhöht die fahrphysikalisch abgeleiteten Grenzwerte, und zwar die Ausweichzeiten um \(\begin{aligned} 1 / \sqrt{\mu } \end{aligned}\) und die Bremszeiten um 1/µ. Bei der Verwendung von Beschleunigungsschwellen für die Auslösung lässt sich der Reibwert, falls in irgendeiner Weise ermittelt, direkt für den Vergleich zwischen benötigter Verzögerung/Querbeschleunigung verwenden, da die maximal mögliche Verzögerung/Querbeschleunigung über µ · g abgeschätzt werden kann. Allerdings sind zurzeit keine Verfahren bekannt, die schon im Vorfeld den Reibwert ermitteln können, um entsprechende Schwellwertmodifikationen zu erlauben.

Für die Sichtweite gibt es optische Verfahren über die Messung der Rückstreuung mit Lidar oder Lidar-ähnlichen Sensoren oder mit Kameras. Als weiterer Indikator sowohl für geringe Sichtweite als auch verminderten Reibwert kann ein mit hoher Geschwindigkeit betriebener Scheibenwischer sein. Auch ein angeschalteter Nebelrückscheinwerfer kann als Modifikationsgrund herangezogen werden, insbesondere bei Warnungen mit einem größeren Abstand zum Hindernis.

6.1.5 Zusammenfassung

In einer vereinfachten Darstellung sind in Abb. 47.7 alle in den vorherigen Abschnitten abgeleiteten Eingriffe in ein Diagramm gezeichnet. Als fahrphysikalische Grenze findet sich der repräsentative Wert t eva (ca. 0,6 s) wieder, für die Grenze, die von Fahrern gemieden wird, steht der Wert t driver (ca. 1 s), während die Warnschwelle wegen des mit der Geschwindigkeit quadratisch wachsenden Bremswegs linear abhängig von der Relativgeschwindigkeit ist. Eine Vollbremsung, die noch vor der gestrichelten Grenze eingeleitet wird, kann die Kollision vermeiden. Eine Kollisionsvermeidung per Ausweichmanöver ist bei den hier getroffenen Annahmen bei Differenzgeschwindigkeiten oberhalb von 10 m/s (36 km/h) immer später möglich als durch Verzögern.

Abb. 47.7
figure 7

Darstellung von Warn- und Eingriffszeitpunkten im Fall der nicht beschleunigten Bewegung von Hindernis und Egofahrzeug (TTC = Abstand/Relativgeschwindigkeit)

Die in Abb. 47.7 gewählte Darstellung ermöglicht eine einfache und korrekte Betrachtung für den Fall mit konstant angenommenen Geschwindigkeiten für Hindernis und Egofahrzeug. Verzögert hingegen das Egofahrzeug (relativ zum Objekt), so ist die TTC-Achse nicht mit einer Zeitachse identisch. So dauert im Falle einer Vollbremsung mit Eingriffsbeginn entlang der gestrichelten Linie näherungsweise doppelt so lang wie der angegebene TTC-Wert, weil die (zeitlich) mittlere Relativgeschwindigkeit durch die Verzögerung nur etwa halb so groß ist wie die Ausgangsgeschwindigkeit.

Die hier gewählte Darstellung repräsentiert einen eher günstigen Fall. Bei niedrigeren Reibwerten oder verzögernden Hindernisobjekten verschieben sich die Schwellen zu höheren TTC-Werten, die Ausweichwerte verschieben sich weitgehend unabhängig von der Relativgeschwindigkeit zu höheren TTC-Werten, während die Bremsgrenze und damit auch die Warngrenze stärker geneigt ist, also proportional zur Relativgeschwindigkeit zu größeren TTC-Werten verschoben. Allein im Falle der Kurvenfahrt könnte bei Ausweichen zur kurvenäußeren Seite ein noch später eingeleitetes Ausweichmanöver erfolgreich möglich sein (wobei sich der Erfolg auf das auszuweichende Hindernis bezieht und nicht berücksichtigt, ob der Ausweichkorridor gefahrlos ist).

6.2 Frontkollisionsgegenmaßnahmen

Neben der Reaktionsassistenz können informierende und automatisch eingreifende Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Sind die informierenden Maßnahmen darauf ausgerichtet, den Unfall zu vermeiden, so sind dagegen die eingreifenden zusätzlich darauf ausgelegt, die Unfallschwere zu lindern. Die im Folgenden diskutierten Maßnahmen können als gesamtes Bündel oder im Teilumfang umgesetzt sein, wobei eine Maßnahme, die in einer späteren Phase ausgelöst wird, prinzipiell auf einen stärkeren Bremseingriff hinweisen sollte.

Für zwei System-Familien existieren Normen. Zum einen beschreibt die seit 2002 gültige und 2013 überarbeitete Norm ISO 15623 „Road vehicles – Forward Vehicle Collision Warning System – Performance requirements and tests procedures“ [17] die Mindestanforderungen an Warnsysteme zur Frontkollisionsvermeidung. Zum anderen die seit 2013 gültige Norm ISO-22839 „Intelligent Transport System – Forward Vehicle Collision Mitigation Systems – Operation, Performance, and Verification Requirements“ [18], die die Anforderungen an Systeme mit Bremseingriffen zum Geschwindigkeitsabbau (speed reduction braking, SRB) und/oder zur Kollisionsfolgenlinderung (mitigation braking (MB)) beschreibt.

6.2.1 Warnungen (Collision Warning)

Da in Kap. 37 die Warnelemente ausführlich beschrieben sind, wird hier nur erwähnt, welche Warnelemente heute im Einsatz sind. Besonders weit verbreitet ist die auditive Warnung mit zumeist kurzen Warntönen, die von einer dazu auch meist blinkenden optischen Anzeige mit einem Warnsymbol ergänzt wird. Bei Fahrzeugen mit einem reversiblen Gurtstraffer bietet sich an, diesen auch zur Warnung heranzuziehen. Ein aktives Fahrpedal kann ebenfalls eine haptische Warnung auslösen, indem der verschiebbare Federfußpunkt ruckartig zum Fahrerfuß hin bewegt wird. Allerdings ist die für eine Wahrnehmung notwendige Voraussetzung, dass das Fahrpedal auch getreten wird, nicht in allen kritischen Situationen gegeben.

Der Einsatzbereich der Warnung liegt zwischen den beiden frühesten Werten t warn und t comfort. Abwägungen zwischen Wirksamkeit und Verzeihlichkeit können dazu führen, dass verzeihlichere Warnungen früher eingesetzt werden können, während weniger verzeihliche, aber sehr wirksame später, also bei kleineren TTC eingesetzt werden (vgl. Kap. 37).

In der Norm ISO 15623 „Road vehicles – Forward Vehicle Collision Warning System – Performance requirements and tests procedures“ werden die Einsatzzeitpunkte spezifiziert, die sich aus der notwendigen Verzögerung und einer Reaktionszeit ergeben, analog zu den Betrachtungen zum Abschn. 47.6.1. Als Höchstwerte werden D req = 6,67 m/s² und τ R = 0,8 s spezifiziert.

6.2.2 Konditionierung auf ein Notmanöver

Gleichzeitig mit der Warnung oder etwas später können Maßnahmen ergriffen werden, die ein vom Fahrer durchgeführtes Notmanöver unterstützen. Schon fast standardmäßig wird das Pre-Fill der Bremse ausgelöst. Gemeint ist damit die Beaufschlagung der Bremse mit einer kleinen Spannkraft (bei hydraulischen Bremsen mit etwa 1–5 bar Bremsdruck). Die damit verursachte Verzögerung ist nicht merklich, führt aber dazu, dass die Bremse nun schneller anspricht. Eine weitere in den Frontkollisionsschutzpaketen beinhaltete Maßnahme ist die Absenkung der Bremsassistent-Auslöseschwelle bei drohender Frontkollision. Eine Änderung der Fahrwerkeinstellung, wenn im Fahrzeug überhaupt möglich, kann sowohl das Notbremsen als auch das Notausweichen fördern. Somit kann mit einer kurzzeitigen, zu Lasten des Komforts gehenden Verstellung das Handling verbessert werden. Sind eine Überlagerungslenkung und/oder eine elektrische Lenkunterstützung vorhanden, so lassen sich auch die Notausweichmanöver durch veränderte Charakteristika vorkonditionieren. Als Beispiele für eine umfangreiche Vorkonditionierung können PRE-SAFE von Mercedes-Benz (allerdings ohne Ausweich-Konditionierung) und das Advanced Pre-Crash Safety (A-PCS)-System von Lexus genannt werden.

6.2.3 Schwacher Bremseingriff

Bei der Komfortschwelle zwischen 1,5 und 2,0 s kann eine automatisch, schon fahrdynamisch wirksame Gegenmaßnahme eingesetzt werden. Es bieten sich zwei Möglichkeiten an:

  1. 1.

    Bremsruck (Warning Braking)

    Die Hauptwirkung des Bremsrucks besteht in der haptischen Alarmwirkung mit einer klaren Bremsaufforderung an den Fahrer. Ein beispielhafter Bremsruck mit einer typischen Verzögerungsamplitude 4 m/s2, Auf- und Abbauflankendauern von 0,2 s und einer Dauer von typisch 0,3 s bewirkt einen Geschwindigkeitsabbau von etwa 2 m/s und damit bei 20 m/s Differenzgeschwindigkeit eine Reduktion der kinetischen Energie bzw. des Bremsabstands von 20 %, führt aber noch zu keiner als kritisch zu betrachtenden Änderung des Fahrzustands, sofern man von einem schon begonnenen Überholvorgang absieht.

  2. 2.

    Schwacher Bremseingriff (Speed Reduction Braking, SRB)

    Mit einer Teilbremsung von 30–40 % der maximalen Verzögerung lässt sich eine hohe Warnwirkung mit einer deutlichen Reduktion der kinetischen Energie verbinden. So kann bei einem solchen bei einer TTC von 1,5 s beginnenden und 4 m/s2 starken Verzögerungseingriff die Differenzgeschwindigkeit auf ein nicht verzögerndes Hindernis die Fahrgeschwindigkeit um etwa 12 m/s abgebaut werden. Allerdings ist bei einer solch frühzeitigen Auslösung dafür Sorge zu tragen, dass dieser durch den Fahrer übersteuert werden kann. Insbesondere wenn ein Ausweichen erkennbar ist, ist der Bremseingriff wieder zu lösen. Ebenso, wenn die Fahrpedalbetätigung einen anderen Fahrerwunsch deutlich macht. Allerdings ist vorher auszuschließen, dass die Fahrpedalbewegung nicht durch den Bremsruck selbst bedingt ist, wie dies bei Vollbremsungen dokumentiert ist [3]. Eine weitere Maßnahme zur Verminderung potenziellen Schadens eines solchen fälschlichen Eingriffs besteht in der Begrenzung der Eingriffsdauer auf das Doppelte der Eingriffs-TTC: Denn nach Auslegung dieser Grenze hätte diese Dauer entweder schon ausgereicht, um die Kollision zu vermeiden, oder sie hätte in dieser Zeitdauer schon stattfinden müssen. Ein Grund für eine weitere Verkürzung ist das aus Untersuchungen [13] im kontrollierten Fahrversuch beobachtete Fahrerverhalten, dass eine automatische Bremsung die Reaktion des Fahrers zum Bremsen beschleunigte und so nach spätestens 1,3 s angenommen werden kann, dass der Fahrer reagiert, sofern eine Gefahrensituation vorliegt.

6.2.4 Starker Bremseingriff (Mitigation Braking)

Ein starker Bremseingriff (hier definiert mit mindestens 50 % des maximalen Verzögerungsvermögens) kann dann erfolgen, wenn das Ausweichen ausgeschlossen werden kann. Allerdings sind für diese Entscheidung einige nicht mit hinreichender Genauigkeit zu ermittelnde Parameter wie z. B. der anzunehmende Ausweichversatz heranzuziehen. In der bisherigen Praxis für Pkw-Anwendungen wird ab 1 s TTC ein starker Bremseingriff mit einer Verzögerung von etwa 6 m/s2 ausgeführt. Diese reicht dann bei ideal schneller Bremse für einen Abbau zwischen 6 und 12 m/s. Auch hierzu ist bekannt, dass maximal mit der doppelten Zeit, also 2 s, gebremst wird, sodass auch bei Falschauslösung maximal um 12 m/s verzögert würde.

Grundsätzlich würde ein noch stärkerer Bremseingriff mehr Nutzen versprechen. Allerdings zeigen Untersuchungen mit Probanden [13], dass dieser Nutzen nur dann erreicht werden kann, wenn der Anstieg sehr schnell ist. Ist die Verzögerungsaufbaurate eher gering (ca. 10…20 m/s3), dann ist bereits ein Bremseingriff mit 6 m/s2 Stärke wegen der darauffolgenden Bremsbetätigungen durch den Fahrer genauso wirkungsvoll wie eine automatische Vollbremsung. Darüber hinaus kann eine starke Kollisionslinderungsbremse kontraproduktiv wirken, wenn durch die mit dem Bremsruck verbundene Körper- und Kopfvorverlagerung den Insassen außerhalb des für ihn günstigen Positionsbereichs für den Einsatz von Rückhalteelementen (Airbag, Gurtstraffung) führt. Eine vor oder gleichzeitig mit dem starken Bremseingriff einsetzende Rückhaltung durch reversible Gurtstraffer kann diese Nebenwirkung erheblich reduzieren.

6.3 Nutzenpotenzial für Kollisionsgegenmaßnahmen

Der Nutzen der Frontkollisionsgegenmaßnahmen besteht in der Vermeidung von Frontkollisionen und der Verringerung der Kollisionsschäden, wenn eine Kollision nicht mehr verhindert werden kann. Wie die bisherigen Rechnungen bereits gezeigt haben, hängt es stark von der Ausgangssituation ab, ob eine Kollision vermieden werden kann, und wenn nicht, wie stark die Reduktion der Schäden war. Um für einen Nutzenkennwert eine weitgehende Unabhängigkeit von den Ausgangsbedingungen zu erreichen, kann die durch die Gegenmaßnahme effektiv verringerte Geschwindigkeit bestimmt werden. Allerdings ist auch diese – selbst bei einem idealisierten System – noch abhängig von der Ausgangsrelativgeschwindigkeit, wie das folgende Beispiel deutlich machen soll, dem der einfachste Fall – der des stehenden Hindernisses – zugrunde liegt.

Es wird eine idealisierte Notbremsung angenommen, die bei einer Zeit t tB ausgelöst und dann sofort mit D 0 verzögert wird. Bei einer Ausgangsrelativgeschwindigkeit von v 0 = 2t tB · D 0 kann gerade noch die Kollision vermieden und somit eine Geschwindigkeit von Δv = v 0 = 2t tB · D 0 abgebaut werden. Sei hingegen die Ausgangsgeschwindigkeit sehr groß (v 1 » 2t tB · D 0), so wird nur halb so viel abgebaut. Um einen übertragbaren Kennwert zu erhalten, wird daher nur die Differenz zur Ausgangsgeschwindigkeit betrachtet, die innerhalb der Dauer liegt, welche der bei der Auslösung zum Zeitpunkt t i vorliegenden TTC entspricht, also Δv CM = v sub(t i) – v sub(t i+ t tB).

Diese Definition der Wirksamkeit erlaubt sowohl eine einfache Abschätzung idealisierter Kollisionsgegenmaßnahmen als auch eine lösungsunabhängige objektive Bewertung von Maßnahmen. Dabei ist sogar die vergleichende Bewertung von automatisch eingreifenden Systemen und fahrermitwirkenden Systemen (z. B. über Warnung oder Bremsruck) möglich, wie in Kap. 13 dokumentiert wird. Abbildung 47.8 zeigt den Verlauf von drei Strategien mit der gemeinsamen Wirksamkeit von Δv CM =  5 m/s. Alle drei könnten bei einer Ausgangsgeschwindigkeit v 0 ≤ 2Δv CM = 10 m/s = 36 km/h die Kollision noch vermeiden. Sie reduzieren bei 40 km/h den Schaden auf den von „Parkremplern“ und verringern die kinetische Energie proportional zur Ausgangsgeschwindigkeit um m · v sub(t i) · Δv CM, wobei die Geschwindigkeitsreduktion bei hohen Geschwindigkeiten auf Δv CM = 5 m/s = 18 km/h abfällt.

Abb. 47.8
figure 8

Drei Eingriffsstrategien mit gleicher Wirksamkeit (Δv CM = 5 m/s) für drei verschiedene Ausgangsrelativgeschwindigkeiten (40, 50, 70 km/h)

Eine Wirksamkeit von Δv CM = 5 m/s ist repräsentativ für Einzeleingriffe, wie sie beispielsweise bei Honda CMBS durch einen Bremseingriff mit 6 m/s2 Stärke zu finden sind, ausgelöst bei t tc = 1 s und mit ca. τ B = 0,2 s Verlustzeit oder alternativ mit einer schwachen, aber frühen Teilbremsung bei 1,6 s mit 3,3 m/s2 und τ B = 0,1 s. Die erst bei sicherem Ausschluss einer Ausweichmöglichkeit, also bei t tc = 0,6 s aktivierbare Notvollbremsung kann eine solche Wirksamkeit mit der Maximalverzögerung (10 m/s2) und sehr schneller Bremsaufbaudynamik (τ B = 0,1 s) erreichen.

Durch ein mehrstufiges Vorgehen lässt sich aber ein noch größeres Potenzial erreichen. Als Beispiel wird die Auslösung einer schwachen Bremsung (Speed Reduction Braking) nach Erreichen der Komfortschwelle für das Ausweichen (t tc = 1,6 s) und eine etwa eine TTC-Sekunde später folgende Vollbremsung herangezogen. Daraus ergibt sich eine Wirksamkeit von Δv CM = 9 m/s. Da aber die Verzögerung nicht konstant und sinnvollerweise zunächst schwächer ist, wird anders als bei den einstufigen Verfahren weniger als der doppelte Geschwindigkeitsabbau erreicht (s. Abb. 47.9). Trotzdem ist mit einer solchen Auslegung ein Geschwindigkeitsabbau von etwa 60 km/h möglich. Damit wird sogar der mit der höchsten Geschwindigkeit von 64 km/h durchgeführte Crashtest zu einem „Parkrempler“ heruntergestuft, wobei allerdings nicht vergessen werden darf, dass die Betrachtungen einem günstigen Fall entsprechen und sich die Schutzwirkung längst nicht in jeder Kollisionssituation erreichen lässt. Dennoch zeigt das Beispiel, was erreichbar ist.

Abb. 47.9
figure 9

Zweistufige Eingriffsstrategie (ttc,1 = 1,6 s, D= 4 m/s2, ttc,2 = 0,6 s, D= 10 m/s2, Verlustzeit jeweils 0,1 s) mit einer Wirksamkeit von Δv CM = 9 m/s (= 1 s · 4 m/s2 + 0,5 s · 10 m/s2)) für drei verschiedene Ausgangsrelativgeschwindigkeiten (60, 70, 90 km/h)

Statt den Funktionsnutzen nach oben zu treiben, begann Volvo 2008 auf einem „Bottom-up-Weg“ mit dem City-Safety-Konzept eine hohe Marktwirkung zu entfalten. Mithilfe eines besonders kostengünstigen Lidar-Sensors mit nur geringer Reichweite lassen sich Auffahrunfälle bei niedrigen Geschwindigkeiten bis zu 30 km/h vermeiden. Dieses Konzept wurde auch von anderen Fahrzeugherstellern übernommen oder als Teilfunktion anderer Automatischer Notbremssysteme integriert.

6.4 Anforderungen an die Umfelderfassung

Die Anforderungen an die Umfelderfassung richten sich nach den ausgelösten Fahrzeugreaktionen. So sind an Warnungen auslösende Hindernisdetektionen geringere Anforderungen hinsichtlich der Fehlalarmrate gestellt als an solche, die starke Bremseingriffe auslösen. Allerdings unterscheidet sich auch der Schwierigkeitsgrad entsprechend, d. h. die Warndetektionen finden bei höheren Abständen statt. Mit den Warnschwellen t warn von 2,5…3,0 s ergeben sich bei unbeschleunigten Hindernissen Abstände von v diff · t warn ≈ 50 m bei Differenzgeschwindigkeiten von 60…70 km/h. Die in der überarbeiteten Norm ISO 15623 [17] für Forward Vehicle Collision Warning Systems (FVCWS) angegebene Ableitung für d max als d max= v rel,max·τ max + v rel,max 2 /2 D max mit v rel,max als obere Relativgeschwindigkeitsgrenze des Systems, Reaktionszeit τ max ≥ 0,8 s und D max = 6,67 m/s² führt bei Auslegung v rel,max = 20 m/s zu Mindestwarnabständen von d max ≥ 46 m. Dieser Wert vergrößert sich bei verzögerten vorausfahrenden Fahrzeugen und natürlich für die Reserve zur Zielplausibilisierung.

Die in der Norm ISO 15623 formulierten Anforderungen hinsichtlich der Genauigkeit der Abstandsmessung mit MAX(± 2 m, ± 1 % · d) sind hingegen mit Punktzieltestreflektoren ohne Schwierigkeiten zu erreichen. Der azimutale (laterale) Erfassungsbereich ist abhängig von der Kurvenfähigkeitsklassifikation. Zu erfüllen ist die Detektion eines Punktziels, das sich in der Verlängerung der Fahrzeugseitenlinie in einem als d 2 definierten Abstand vom Fahrzeug befindet. Bei einem 1,80 m breiten Fahrzeug ist bei einem in der Mitte montierten Einzelsensor mindestens ein Azimutwinkelbereich von ± 9° (Curve Capability Class I, d = 10 m) bis ± 18° (Class III, d = 5 m) vorzuhalten. Der Elevationswinkelbereich (vertikaler Sichtbereich) muss hingegen groß genug sein, um bei d 2 ein in der Mitte platziertes Punktziel in 0,2 und in 1,1 m Höhe zu detektieren. Bei geeigneter Ausrichtung folgt, dass der Elevationsbereich genau halb so groß sein muss wie die Anforderung für den Azimut. Neu hinzugekommen ist die Forderung der Norm, Brücken mit einer Durchfahrthöhe von mindestens 4,5 m ohne Alarm zu durchfahren. Viele der Sensor-Anforderungen von ISO 15623 finden sich auch in der ISO 22839 wieder. Allerdings werden für die Eingriffsschwellen keine expliziten Werte angegeben. Allein der Geschwindigkeitsbereich von Subjekt- und Objektfahrzeug ist angegeben, in dem (zu einem nicht direkt definierten Abstand) eine Bremsreaktion erfolgen muss. Allerdings ist diese Reaktion wiederum über die Eingriffsstärke und –wirkung (Geschwindigkeitsabbau) spezifiziert.

Aus der Praxis werden für die hier diskutierten Funktionen Reichweiten von 60 bis 80 m gefordert [19]. Damit lässt sich gegenüber stehenden Hindernissen noch bei 100 km/h eine TTC von über 2 s realisieren, womit ein Wert erreicht wird, der ein ungefährliches Ausweichen oder bei schneller Reaktion noch eine erfolgreiche Kollisionsverhinderung durch ein Bremsmanöver noch ermöglichen würde. Gerade die für eine Kollisionslinderung erforderlichen starken Bremsungen werden erst bei TTC von etwa 1 s ausgelöst, woraus sich bei Kollisionen mit Differenzgeschwindigkeiten bis 50 km/h ein Reaktionsabstand von weniger als 15 m gefordert ist. Geht man von einer Signalplausibilisierungszeit von 0,3 s aus, vergrößert sich der erforderliche Abstand auf etwa 20 m.

Die größte Herausforderung ist nicht die Detektion von relevanten Objekten, sondern die Selektion der tatsächlich bedrohlichen. Weder Schilderbrücken noch Gullydeckel oder „verschmolzene“ Objekte dürfen zu einer Auslösung führen. Das Ausfiltern solcher Falschobjekte gelingt über die längere Beobachtung [20] der Reflektionsstärke und der Konstanz der Winkelwerte in Abhängigkeit vom Abstand. Nur Objekte mit diesbezüglich plausiblem Verhalten werden für eine Auswertung hinsichtlich von Kollisionsgegenmaßnahmen herangezogen.

Um die Anforderung an die Robustheit abzuleiten, kann man die Zahl der Nutzfälle betrachten. Dazu werden für Deutschland die Unfälle mit Personenschaden (über 300 000) auf die Kilometerleistung der Pkw (6 · 1011 km) bezogen. Die Unfallrate liegt somit bei etwa einem Unfall mit Personenschaden pro 2 Mio. km. Nur ein Teil der Unfälle ist Frontkollisionen zuzuordnen, sodass von einer immer noch als optimistisch anzusehenden Nutzrate etwa 1 pro 5 Mio. km ausgegangen wird. Da nicht jede Fehlauslösung zu einem schweren Unfall führen muss, ist eine Fehlauslösungsrate in der gleichen Größenordnung auch für einen starken Eingriff als akzeptabel einzuschätzen. Das heißt aber auch, dass zwischen zwei Fehlauslösungen eine mittlere Kilometerleistung von 5 Mio. km liegen sollte, oder anders betrachtet, nur eine innerhalb von insgesamt 25 Fahrzeuggesamtnutzungsdauern.

Für die Genauigkeit der Objektdaten ist die Bestimmung der TTC und der benötigten Verzögerung heranzuziehen. Eine Ungenauigkeit von 10 % TTC und 0,5 m/s2 D req sollte nicht überschritten werden, wobei die Filterlaufzeiten zu insgesamt nicht mehr als 200 ms Zeitverzug führen dürfen.

Die oben diskutierte Einschränkung auf niedrige Geschwindigkeiten und damit die Eingrenzung auf den innerstädtischen Bereich reduziert die Anforderung erheblich. Bei geeigneter Sensorplatzierung z. B. hinter der Windschutzscheibe und insgesamt nur geringem Entfernungsbereich von etwa 10 m lassen sich Bodenreflektionen oder andere Fehlmessungen verursachende Konstellationen ausschließen. Somit ist ein in diesem Bereich detektiertes Objekt grundsätzlich als relevantes Hindernis zu bewerten, und folglich können geschwindigkeitsreduzierende Bremsungen ausgelöst werden, sofern eine Kollision droht. Da aber eine allein auf niedrige Geschwindigkeiten begrenzte Funktion mittlerweile nicht mehr marktgerecht ist, sind Sensorfunktionen zu erweitern oder weitere Sensorik notwendig.

7 Ausblick

Obwohl schon seit über 50 Jahren an Frontkollisionsschutzsystemen gearbeitet wird, haben erst die Fortschritte der Umfeldsensorentwicklung, die durch Komfortfunktionen wie ACC bzw. FSRA stimuliert wurden, zu serientauglichen Umsetzungen geführt. Damit war der technologische Weg frei, umfelderfassende Sensoren für den direkten Kollisionsschutz einzusetzen. Zum Teil aus Gründen der strategischen Marktplatzierung, zum Teil getrieben aus Wettbewerbsdruck ist das Angebot stark gewachsen, so dass ein Neuwagenkäufer aus einer Vielzahl an Modellen wählen kann, die Frontkollisionsgegenmaßnahmen enthalten. Die Aufnahme in den Katalog des EURO-NCAP reflektiert einerseits diese Entwicklung und forciert sie andererseits, so dass die serienmäßige Ausstattung in nahezu allen Klassen zu erwarten ist.

Auf der Funktionswunschliste stehen der Ausbau des Schutzes der ungeschützten Verkehrsteilnehmer, Fußgänger und Zweiradfahrer, und die Ausdehnung auf komplexere Szenarien wie der Kollisionsvermeidung und –linderung in Querverkehrskollisionssituationen, vgl. Kap. 49, ganz oben.